Die ungehobene Ressource

Vielfalt ist für Unternehmer eigentlich keine Last, sondern Erfolgsfaktor. Wie aber überträgt man den doch eher schwammigen Begriff in die wirtschaftliche Praxis? Eine Einstiegshilfe.

Unterschiedliche Perspektiven und Denkansätze bringen neue Lösungswege mit sich.

Was macht erfolgreiche Unternehmen aus? Über diese Frage wurden unzählige Bücher geschrieben. Und je nachdem, welches man konsultiert, ist der Schlüssel zum Erfolg die richtige Idee, die richtige Einstellung, die richtigen Mitarbeiter oder auch einfach nur Glück. Nach wie vor unterschätzt wird das Thema Vielfalt. Auch weil sie, und noch mehr ihre Synonyme Diversität beziehungsweise „Diversity“, Kampfbegriffe geworden sind. Gerade im Wirtschaftsleben hat es das Thema aber eigentlich verdient, unideologisch und nüchtern betrachtet zu werden. Vielfalt ist erwiesenermaßen ein Asset, genauso wie das richtige Personal oder der Unternehmergeist. Statistiken dazu gibt es unzählige. Eine kleine Auswahl:

  • Laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey sind Unternehmen mit einer durchmischten Belegschaft mit höherer Wahrscheinlichkeit überdurchschnittlich profitabel.
  • Laut der Personalberatung Michael Page bringen unterschiedliche Perspektiven und Denkansätze neue Lösungswege mit sich. Teams werden so kreativer und produktiver.
  • Eine Befragung der Charta der Vielfalt ergab, dass Mitarbeiter in einem vielfältigen Arbeitsumfeld zufriedener sind.
  • Eine Umfrage des Marktforschungsunternehmens IHR – Institut für Human Recources zeigte, dass es gerade jüngeren Menschen – den so dringend benötigten Arbeitskräften von morgen – wichtig ist, wie sich Unternehmen in dieser Frage positionieren.

Vielfältigkeit bringt also mehr Profit, mehr Zufriedenheit und hilft beim Kampf um Fachkräfte. So weit die Theorie, aber zu Recht fragen viele Firmen – gerade kleinere: Wie sieht so etwas in der Praxis aus? Denn wer die positiven Effekte der Vielfalt nutzen möchte, der muss mehr tun, als ein paar Lippenbekenntnisse auf die firmeneigene Website zu stellen und einmal im Jahr eine schicke PowerPoint-Präsentation zu halten. Gleichzeitig ist es aber auch kein Hexenwerk, denn Vielfalt hat so viele verschiedene Dimensionen, dass quasi jede Firma sie auf die eine oder andere Art für sich nutzen kann.

Vielfalt im eigenen Unternehmen

Die Hebel dazu hat jeder Unternehmer: Im eigenen Haus hat man schließlich freie Hand, kann selbst bestimmen, wer angestellt wird und wer mit wem arbeitet. Dazu gilt es aber erst einmal, sich selbst zu hinterfragen. Denn fehlende Vielfalt liegt meistens in der Art begründet, wie Personal ausgewählt wird. Wer immer die gleichen Kanäle anzapft und immer an gleicher Stelle sucht, der findet auch nur die immer gleichen Lebensläufe und Persönlichkeiten. Das bedeutet nicht, dass direkt eine Quotenregelung hermuss. Aber es ist empfehlenswert, die eigene Komfortzone zu verlassen. Ein guter Weg ist es, die Bewerbungsgespräche und Personalentscheidungen nicht im Alleingang zu treffen. Warum nicht Mitarbeiter einbinden, die ganz eigene Vorstellungen davon haben, was die Firma braucht?

Ein weiterer wichtiger Schritt ist es, starre Stellenprofile hinter sich zu lassen. Es müssen nicht immer x Jahre Berufserfahrung, ein bestimmter Bildungsabschluss und mehr oder weniger aktuelle IT-Kenntnisse sein. Gerade in Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels sollten Unternehmen auch einfach mal dem aus der Reihe fallenden Bewerber eine Chance geben. Es muss ja auch nicht direkt der feste Arbeitsvertrag sein, ein bis zwei Tage Probearbeiten sind ein Start. So bekommt man schließlich sowieso einen viel besseren Eindruck, wie gut sich jemand ins Team einfügt und wie engagiert und lernwillig er ist – Aspekte, die oft deutlich schwieriger im laufenden Betrieb zu verbessern sind als die reinen Fachkenntnisse.

So gelingt es dann, die Belegschaft zu durchmischen. Um dann aber die wirklichen Vorteile zu heben, müssen diese verschiedenen Menschen mit ihren verschiedenen Perspektiven auch vernünftig eingebunden werden. Es ist relativ nutzlos, wenn plötzlich die Belegschaft bunt ist, der Chef aber weiterhin alles allein entscheidet und dabei niemanden konsultiert. Also braucht es den regelmäßigen Austausch mit den Mitarbeitern. Das kann informell gelingen, wenn etwa ein Händler sich auf der Fläche im Laufe der Woche mal hier und mal da hinstellt oder im Falle eines Filialisten regelmäßig die verschiedenen Standorte abklappert. Es kann aber auch feste Formate geben, monatliche Gesprächsrunden mit zufällig ausgewählten Mitarbeitern aus verschiedenen Abteilungen, auch ein gemeinsames Frühstück kann helfen. Klar ist: All das kann nur gelingen, wenn die Unternehmer und Führungskräfte mutig anstatt verzagt sind. Wer seinen Einstellungsprozess lockert und auch mal ein Risiko bei einer Anstellung eingeht, der kann danebenlangen. Wer neue Dialogformate etabliert, stellt vielleicht fest, dass die nicht ansatzweise so gut funktionieren wie gedacht. Solche Fehler können passieren, sie müssen akzeptiert werden und dürfen nicht als Entschuldigung dienen, um wieder in den „Das haben wir schon immer so gemacht“-Trott zurückzufallen.

Vielfalt in der Branche

Gerade kleinere Unternehmen stoßen beim Thema Vielfalt allerdings schnell an ihre Grenzen. Wer nur drei Mitarbeiter hat, kann selbst im besten Fall nur vier Perspektiven kombinieren. Wie gut, dass kaum ein Unternehmer allein dasteht und jede Branche eine reiche Zahl an Firmen hat, mit denen er sich austauschen kann. Denn diese unterscheiden sich dann doch wieder voneinander: in Größe, Standort, Schwerpunkt, Philosophie … Die Liste lässt sich lange fortschreiben. Natürlich sind Firmen derselben Branche zuvorderst Konkurrenten. Dass ein gewisses Level an Kooperation trotzdem sinnvoll ist, sollte jedem klar sein. Coopetition (siehe WIR-Magazin 6) ist in den meisten Wirtschaftsbereichen gelebte Praxis.

Gerade im Handel haben Verbundgruppen wie die innerhalb der ANWR Unternehmensgruppe eine lange Tradition. In einer Branche mit vielen Unternehmen ist Vielfalt schon vorprogrammiert. Kleine Firmen machen andere Erfahrungen als große, Händler in einer Großstadt andere als in einem Dorf. Wer sich untereinander austauscht, kann davon profitieren. Was funktioniert gut unter welchen Bedingungen, was wiederum nicht? Kleine Firmen können zum Beispiel dank größerer Flexibilität Prozesse schneller erproben, als das große umsetzen können. Diese wiederum können kapitalintensivere Innovationen in der Praxis testen und so Vorbild für die kleinen sein. Auch auf der Produktebene kann der Austausch mit Branchenkollegen helfen. Was funktioniert, was nicht? Im Idealfall wird so nicht nur das eigene Unternehmen, sondern auch das Sortiment vielfältiger.

Vielfalt in der Stadt

Es gibt allerdings keinen Grund, diese Art von Austausch auf die eigene Branche zu beschränken. Klar, gewisse Dinge sind sektorspezifisch, die Herausforderungen durch den Online-Handel betreffen eben vor allem Händler, ein Verbrennerverbot vor allem die Autoindustrie. Aber viele Probleme haben Unternehmen branchenübergreifend. Personalmanagement, Innovationsfindung, selbst Marketing und Verkauf sind in den
meisten Unternehmen wichtig. Es schadet also nicht, den Blick noch weiter über den eigenen Tellerrand zu werfen. Gerade in größeren und mittleren Städten sind andere Unternehmer oft nicht schwer zu finden. Händler kennen das aus den Innenstädten, in denen sich außer ihnen auch Gastronomen, Büroarbeiter und Kulturschaffende tummeln. Sich hier Inspiration zu holen, ist empfehlenswert. Manche Trends erreichen erst die eine, später andere Branchen. Je enger man mit Fachfremden im Austausch ist, desto eher bekommt man etwas mit. Foren dafür gibt es in der Regel genug: allen voran die Netzwerkformate der ANWR GROUP. Die IHK, Interessengemeinschaften in Innenstädten, Unternehmerverbände sind weitere. Und falls es die nicht gibt oder diese zu trocken sind – dann schadet es auch nicht, Unternehmer aus anderen Bereichen mal auf einen Kaffee einzuladen. Gerade, wenn es um konkrete Problemlösungen geht, kann auch jeder selbst ein Treffen organisieren.

Vielfalt in Europa – und darüber hinaus

In einem vereinten Europa sollte das eigene Interesse nie an den Grenzen der eigenen Stadt enden, eigentlich nicht einmal an den Landesgrenzen. Wann immer hierzulande eine Lösung für ein Problem nicht auftauchen will, gibt es die vielleicht in Frankreich, in Großbritannien oder Polen. Erinnern wir uns an die Diskussion um die Frage, ob Kaufhäuser noch eine Zukunft in Innenstädten haben: International gab und gibt es viele Beispiele, die genau das bestätigen (inwieweit daraus für die Kaufhäuser hierzulande die richtigen Schlüsse gezogen wurden, mag jeder selbst bewerten). Es war noch nie so einfach, sich über die Geschehnisse in anderen Ländern zu informieren. Das Internet wirkt Wunder. Und längst ist es auch einfacher geworden, internationalen Austausch zu organisieren. Ein Video-Call ist viel schneller aufgesetzt als eine Konferenz organisiert.

Mut und Besonnenheit

Viele Dimensionen der Vielfalt können Unternehmer also für sich nutzen. Das erfordert von ihnen selbst aber vor allem Mut, Neugierde und eine gewisse Risikobereitschaft. Wer sich neuen Perspektiven und Ideen aussetzt, der läuft immer Gefahr zu erfahren, dass er bisher falschlag. Nichts ist dem Menschen unangenehmer, als sich die eigene Fehlbarkeit einzugestehen. Genau diese Bereitschaft muss aber da sein, denn wer alles richtig macht, der braucht auch keine Verbesserungsvorschläge. Risikobereitschaft bedeutet vor allem, neue Dinge auszuprobieren, auch wenn nicht hundertprozentig klar ist, dass diese auch funktionieren oder das gewünschte Ergebnis liefern. Scheitern muss genauso akzeptiert werden wie die eigene Fehlbarkeit. Und es sollte im Nachgang nicht als Begründung dafür dienen, einfach wieder alles so zu machen wie schon immer. Der nächste Versuch könnte schließlich funktionieren. Risikobereitschaft heißt aber natürlich nicht, alles auf eine Karte zu setzen. Gerade unerprobte Maßnahmen sollten eher im kontrollierten Rahmen ablaufen. Wer neue Führungsprozesse ausprobiert, kann das erstmal in einem Team oder einer Abteilung tun. Neue Technologien müssen auch nicht direkt in der ganzen Firma eingeführt werden. Und: Nicht jede andere Perspektive, nicht jede Idee von außerhalb ist zwangsläufig gut oder passt zum eigenen Unternehmen. Vielfalt zu nutzen und offen für Neues zu sein, heißt nicht, unreflektiert jedem Trend nachzujagen und jedes neue Buzzword aus der Welt der Berater und Coaches zum Anlass zu nehmen, die eigene Strategie komplett über den Haufen zu werfen. Gute Unternehmer wissen sehr genau, was ihre Identität, ihre Marke ist (siehe dazu Heft 6). Diese muss – bei aller Bereitschaft, Neues zu erproben – bestehen bleiben.

Diese Balance zwischen Mut und Besonnenheit ist die hohe Kunst bei der effektiven Nutzung von Vielfalt für den eigenen unternehmerischen Erfolg. Sie ist nicht leicht zu finden und für jeden Unternehmer anders. Aber klar ist: Nur im eigenen Saft zu schmoren, ist zu wenig, es verhindert Fortschritt. Und das kann – ganz unideologisch – ja nun wirklich keiner wollen.