Mission Innenstadtbelebung

Im Sauerland beginnen zwei Versuche, die Innenstädte wiederzubeleben. Schon früh zeigt sich: Das könnte eine Blaupause für andere Kommunen sein.

Es könnte eigentlich ganz gut laufen in Willingen, dort im Sauerland. Immerhin 18 Pisten hat das Skigebiet, das direkt zur Gemeinde gehört. Es gibt Hotels, einen Bahnhof und auch für Touristen in anderen Jahreszeiten ist gesorgt. Die Stadt mit ihren gut 8.000 Einwohnern vermarktet sich als Ort für Aktivurlauber. Wandern, Mountainbike fahren, die Natur entdecken, all das geht.
Und dennoch: Wer sich mit André Vollbracht unterhält, der bekommt ein etwas anderes Bild von Willingen gezeichnet. „Wir haben bereits einiges an Leerstand auf unserer Haupteinkaufsstraße“, sagt Vollbracht. Zudem ist sie gleichzeitig die Hauptverkehrsstraße. Eine Umgehungsmöglichkeit für den Verkehr fehlt. Und so schlängelt sich so mancher Lkw über die Bundesstraße 251 quer durch die kleine Gemeinde, macht Lärm und verstopft die Straße. Zum Bummeln lädt das nicht gerade ein. Vollbracht ist Schuhhändler und gleichzeitig Eigentümer mehrerer Immobilien in der Innenstadt. Und seine Geschäfte leiden unter der Situation, da helfen auch all die Touristen nichts. „Sie kommen meistens nur für ein paar Nächte, machen etwas Party und lassen die Hauptstraße dabei eh links liegen“, sagt er. Deshalb will Vollbracht schaffen, wovon viele Gemeinden in Deutschland träumen: Die Innenstadt wiederbeleben. Nur, wie kann das gelingen?

Innenstädte stehen vor vielen Problemen

Es ist eine Frage, über die Lokalpolitiker schon lange brüten, der Einzelhandel sowieso. Auch die Gastronomie macht sich Sorgen, wenn die Läden leer stehen und die Einkäufer ausbleiben, die anschließend auch gerne mal etwas essen würden. Selten gibt es den einen Grund, warum es einer Innenstadt nicht gut geht: Das Shopping im Internet hat sicherlich zahlreiche Besucher gekostet, eine Hauptverkehrsstraße mitten durch das Zentrum ist nicht gerade hilfreich. Man könnte es also als deterministisch betrachten, wenn in Städten wie Willingen nun die Läden schließen. Oder man initiiert ein Pilotprojekt, das Pioniercharakter hat. Das Projekt trägt den Namen Laden:Lokal:Labor und macht die gesamte Innenstadt von Willingen zum Versuchsraum. Ein weiteres Reallabor gibt es noch im knapp 30 Kilometer entfernten Marsberg. In beiden Städten wollen die Jungunternehmer aus der ANWR Unternehmensgruppe gemeinsam mit den Verantwortlichen vor Ort daran arbeiten, die Innenstadt wieder attraktiver zu machen. Haben sie Erfolg, könnte das ein ermutigendes Beispiel für andere Ortschaften sein.

Maastricht als Vorbild?

Entwickelt haben sie den Ansatz auf einem Workshop in Maastricht im vergangenen Jahr. Die niederländische Stadt gilt als Vorbild, wenn es um die Gestaltung einer Innenstadt geht, dank ihrer Lage hat sie es aber auch recht leicht. Maastricht grenzt an drei Länder, die Stadt ist schön, zieht viele Touristen an. Und in den Niederlanden wird grundsätzlich mehr Geld in die öffentliche Infrastruktur investiert als hierzulande. „Der Weg von Maastricht hat aber auch seine Nachteile“, sagt der Stadt- und Regionalentwickler Léon Gross, der den Workshop gemeinsam mit seinem Kollegen David Nil Morsi ausgerichtet hat und die Laden:Lokal:Labore betreut. Zum Beispiel sei die Stadt sehr homogen, es sei gar vorgegeben, wie groß Plakate seien dürften. Freiräume, wo junge Menschen kreativ sein können, fehlten etwa. „Wir wollen Maastricht also nicht kopieren, sondern unseren eigenen Weg finden.“

Die Laden:Lokal:Labore in Willingen und Marsberg sind eher Räume, in denen verschiedene Ideen getestet werden können. Ziel ist es, unter anderem Kooperationen zu fördern – etwa zwischen Einzelhandel, Gastronomie, Kulturszene, Verwaltung oder Politik. Es handelt sich um koproduktive Projekte, bei denen die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure der Schlüssel zum Erfolg ist. In Willingen ist André Vollbracht als lokaler Händler der Ansprechpartner vor Ort, während Gross und Morsi in Marsberg eng mit dem Einzelhändler David Wegener sowie mit Anja Daoudi von der Marsberger Leerstandsvermittlung zusammenarbeiten.

„Einzelhändler sind mehr als ihr Ladenlokal, sie sind Teil eines Stadtgefüges“, sagt Gross. Er kennt eine Vielzahl von Beispielen für kreative Umnutzung aus vergangenen Projekten, auch in ländlichen Regionen: „In der Kleinstadt Wittenberge entstand aus einem ehemaligen Kaufhaus der Stadtsalon Safari, ein florieren- der Kulturort, der gleichzeitig als Projekt- und Ideenwerkstatt für gemeinnütziges Engagement dient“, erzählt Gross begeistert. Außerdem könnten Vermieter leer stehende Flächen als Eventraum umgestalten. „Junge Menschen nutzen sie dann vielleicht, um zum Beispiel Kleidertauschpartys zu veranstalten.“ Klar, das bringe womöglich weniger Miete ein, aber es mache die Innenstadt insgesamt attraktiver und sorge für eine Belebung. „Einzelhändler können Ideengeber sein. In der Stadtentwicklung ist alles möglich, es ist immer nur die Frage, wer es initiiert“, sagt Gross.

Stadtrundgang schafft Raum für Ideen

Willingen und Marsberg eignen sich laut Gross hervorragend für diese Reallabore. Beide Städte seien typische Mittel- und Kleinstädte in einer ländlichen Region. Sie spürten den demografischen Wandel und das Abwandern der jungen Generation. Es gebe Leerstand, eine ungünstige Verkehrsführung, aber engagierte Menschen vor Ort, die an all dem etwas ändern wollten. Was beide Städte unterscheidet: Willingen ist stark touristisch geprägt, Marsberg nicht. Zudem sei Marsberg größer und strukturschwächer.

Um Willingen voranzubringen, hat Schuhhändler Vollbracht gemeinsam mit Gross und Morsi im September zum Stadtrundgang geladen. Zwischenstopps machten sie in einigen leer stehenden Geschäften. „Wir wollten bewusst nicht im Konferenzraum eines Hotels sitzen“, sagt Gross. Der Leerstand sollte für alle spürbar werden, und ihn für eine Konferenz zu nutzen, ließ so manchen Händler auch kreativ werden. Beim Rundgang mit dabei hatten sie eine Karte, auf der sie die Stadt in verschiedene Zonen eingeteilt hatten und auf der sie sich noch Notizen machen konnten: Wo liegt an dieser Kreuzung das Problem, was wissen wir über den Besitzer der Immobilie gegenüber?
Andere Einzelhändler nahmen am Stadtrundgang teil, ebenso Hoteliers, der Chef der Seilbahngesellschaft und die Wirtschaftsförderung. „Ich hätte mir noch mehr Vertreter aus der Politik gewünscht“, sagt Vollbracht. Bei ihrem Rundgang stellten alle gemeinsam fest, dass der Leerstand auf der Hauptstraße aktuell noch überschaubar ist, was in fünf Jahren aber schon anders aussehen dürfte. Einige Ladenbesitzer dort werden aus Altersgründen bald ihr Geschäft aufgeben, junge Nachfolger fehlen. Auf ihrem Rundgang haben sie deshalb gemeinsam diskutiert, welche Verbesserungen es an verschiedenen Stellen bestenfalls braucht.

Stadtentwicklung ist Netzwerkarbeit

„Eine Umgehungsstraße hätten wir gerne“, sagt Vollbracht, wohl wissend, dass das eher unrealistisch ist und ohnehin viele Jahre dauern würde. Aber man könnte den Verkehr zumindest beruhigen. „Vielleicht ist ja eine Tempo-30-Zone möglich“, hofft Vollbracht, auch wenn er da selbst nicht recht dran glauben mag. Bei dem Rundgang hat sich laut ihm auch gezeigt, dass nicht nur die Einzelhändler die Probleme sähen. „Auch die Hoteliers fänden es schön, wenn Gäste abends nicht durch eine Geisterstadt laufen müssten“, sagt Vollbracht. Gemeinsam wollen sie nun auch überlegen, ob sie noch in Förderprogramme des Bundeslandes Hessen hereinkommen. Es gibt zum Beispiel eines für die Zukunft Innenstadt, das Vollbracht im Blick hat. 200.000 Euro würde das Land einer Kommune hinzugeben, wenn diese einen guten Ansatz für eine Neugestaltung ihrer Innenstadt hat. Und besonders wichtig: Konkrete Ideen gibt es auch.

„Besucher stehen ja immer auf landestypische Dinge. Das können Speisen sein oder andere lokale Besonderheiten“, sagt Vollbracht. Bei Willingen gibt es zum Beispiel ein stillgelegtes Bergwerk, das man besichtigen kann. „Warum also nicht einen historischen Pfad durch die Stadt anlegen, wo Besucher QR-Codes scannen können, um so mehr über unsere Geschichte zu erfahren?“, schlägt der Schuhhändler vor. Am Ende sei es egal, ob sich die Antwort nun in mehr Cafés oder einem Holzentdeckungspfad mit geschnitzten Figuren zeige, weil Willingen eine waldreiche Region ist: „Wir müssen für mehr Frequenz sorgen, dann machen wir auch alle bessere Umsätze“, fasst es Vollbracht zusammen. Allein umsetzen kann das keiner, weder ein Einzelhändler noch ein Hotelier oder die Stadtverwaltung. Deshalb will der Schuhhändler nun noch mehr zur Vernetzung in Willingen beitragen. „Es gibt bisher keine Anlaufstelle, um seine Ideen vorzustellen“, sagt er. Deshalb erstellt er nun eine Website, gewissermaßen als einen digitalen Ideen-Hub. Hier könne man sich die Ideen der anderen anschauen und selbst Vorschläge machen. „Oft entwickelt sich ja etwas im gemeinsamen Austausch, im Pingpong der Ideen“, findet Vollbracht. Wie fruchtbar all das ist, wird sich wohl erst in ein oder zwei Jahren zeigen. Klappt es aber, wäre Willingen die Blaupause für viele weitere Städte und Gemeinden.