Ich habe die Worte meines damaligen Handballtrainers noch ganz genau im Ohr. Sieben oder acht Jahre alt waren wir damals und lagen zur Halbzeit hinten. Da sagte mein Trainer zwei Sätze, die ich nicht vergessen konnte: „Seid egoistisch! Spielt den Ball ab!“ Was in der Rückschau eines Erwachsenen schon nicht so recht zusammenpassen mochte, war für einen Haufen von E-Jugendlichen so etwas wie höhere Mathematik. Entsprechend fragend schauten wir zu unserem Trainer. Was meinte er? Er sah die Verwirrung und klärte uns auf: „Wenn ihr ein Tor werfen wollt, dann müsst ihr abspielen. Erst dann könnt ihr euch wieder freilaufen, den Ball zurückbekommen und ein Tor werfen.“ Nur so, das schwang in seinen Worten mit, können wir als Team gewinnen. Wenn wir alle Egoisten sind.
Was unser Trainer im Kleinen formulierte, trifft auch auf die Welt im Allgemeinen zu. Denn ja, Egoismus gilt gemeinhin als gesellschaftliches Übel, als Gegenpol zu Solidarität und Gemeinschaftssinn. Egoisten werden in der Schule gemieden und Eltern erklären ihren Kindern, dass sie bloß nicht immer an sich selbst, sondern auch mal an die Familie oder andere denken sollen. Die Egoisten, das sind zumeist die Bösen. Egoisten sind die, die nur sich selbst helfen wollen, koste es, was es wolle.
Egoisten sind Teamspieler
Diese weitverbreitete Sichtweise greift in ihrer Pauschalität jedoch zu kurz. Denn unter bestimmten Umständen kann das Verfolgen eigener Interessen durchaus förderlich für die Gemeinschaft sein. Oder mehr noch: Das Verfolgen der eigenen Interessen ist überhaupt erst die Basis dafür, dass eine Gemeinschaft erfolgreich sein kann. Das zeigt sich in Sportarten wie Handball oder Basketball, wo ein Doppelpass viel eher zum Erfolg führt als das Dribbling eines Einzelnen.
Es zeigt sich aber auch in vermeintlichen Einzelsportarten wie dem Tennis oder dem Boxen. Dort ist natürlich jeder Athlet darauf bedacht, der Beste in seiner Disziplin zu werden. Doch wäre der Einzelne niemals so gut, wenn die anderen sich nicht auch anstrengen würden. Ob als Gegner oder Trainingspartner – erst im Miteinander entsteht die individuelle Stärke: Man fordert sich heraus und verbessert sich gemeinsam. Der christliche Spruch „Eisen wird scharf durch Eisen“ transportiert die Idee dahinter perfekt. Was könnte einer Gemeinschaft besser helfen als viele Individuen, die die bestmögliche Form ihrer selbst sind?
Das gilt umso mehr in Krisen. Eine Gemeinschaft kann Einzelne nur dann auffangen, wenn sie selbst stark ist und gut zusammenhält. Anders würde die Krise des Einzelnen zur Krise der Gemeinschaft werden. In Flugzeugen ist aus genau diesem Grund ein klares System etabliert worden: Fällt der Druck in der Kabine, sollten Passagiere zuerst ihre eigene Sauerstoffmaske aufsetzen, bevor sie anderen helfen. Die Logik ist die gleiche wie auch in der Wirtschaft: Der Egoismus des Einzelnen ist die Grundlage dafür, dass eine Gemeinschaft überleben kann – und sogar stärker wird.
Adam Smith und die „unsichtbare Hand“
Im Handel, wo täglich unzählige Akteure aufeinandertreffen, lässt sich das komplexe Zusammenspiel von Egoismus und Gemeinschaftswohl besonders gut betrachten. Wenn ein Schuhhändler aus Düsseldorf morgens seinen Laden öffnet, tut er das zunächst aus eigenem Interesse: Er möchte seinen Lebensunterhalt verdienen, seine Familie versorgen, vielleicht sogar Wohlstand aufbauen. Doch in diesem scheinbar egoistischen Akt steckt weit mehr gesellschaftlicher Nutzen, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Der Schuhhändler schafft Arbeitsplätze, bietet Kunden hochwertige Schuhe, zahlt Steuern und trägt zum lokalen Wirtschaftskreislauf bei.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bereits der Wirtschaftswissenschaftler Adam Smith beschrieb im 18. Jahrhundert, wie das Streben nach individuellem Nutzen auf freien Märkten durch eine „unsichtbare Hand“ dem Gemeinwohl dienen kann. Der einzelne Akteur, so erklärte es Smith, strebe zwar mit seinen Handlungen nicht nach dem Glück der Gemeinschaft. Durch sein eigenes Bestreben aber fördere er Wettbewerb, Innovation und so indirekt eben auch das Wachstum einer Wirtschaft.
Zwar lässt sich diese Theorie aus dem 18. Jahrhundert nicht 1 : 1 in das moderne Leben übertragen. Doch die Basisthese von damals gilt heute noch genauso: Der Egoismus des Einzelnen führt zum Wohlstand von vielen. Und umgekehrt zugleich zum eigenen, individuellen Nutzen. Beispiel Lederwarenhändler: Wenn dieser seine Online- Präsenz ausbaut, in digitale Infrastruktur investiert oder neue Serviceleistungen entwickelt, so geschieht dies zunächst mit dem Ziel, das eigene Geschäft zu verbessern.
Doch diese auf Eigeninteresse basierenden Innovationen setzen Maßstäbe, fordern Mitbewerber zur Weiterentwicklung heraus und heben allmählich das Niveau der gesamten Branche. Das Eigeninteresse treibt den Fortschritt.
Eigeninteresse macht Gemeinschaft stark
Positiver Egoismus kommt an verschiedenen Stellen zum Vorschein. Die simpelste Form des positiven Egoismus zeigt sich bei Bestrebungen der Coopetition. Das Kofferwort aus Competition und Kooperation steht für Fälle, in denen sich Konkurrenten meist kurzfristig zusammentun, um ihre eigene Stellung in einem Markt zu verbessern. Sie erkennen also, dass es aus rein egoistischen Motiven besser für sie ist, sich mit der Konkurrenz zu verbünden, als sich mit ihr in einen Kampf zu begeben. Solche Deals halten meist nur für einen begrenzten Zeitraum, zeigen aber, wie egoistischer Antrieb zu einem besseren Ergebnis für beide führen kann – wenn man Egoismus nicht starr als „Ellenbogen ausfahren“ versteht.
Deutlich nachhaltiger wird positiver Egoismus im 21. Jahrhundert in Kooperationen und Genossenschaften sichtbar. Denn seien wir ehrlich: Fast niemand ist eines Tages aufgewacht und hat gesagt, er würde gerne andere Händler in ganz Europa unterstützen und sich deshalb einer Kooperation wie der ANWR GROUP anschließen. Nein, die Beweggründe der Händler und Partner sind zunächst einmal geprägt von Eigeninteresse. Genauer gesagt: Jeder Händler verfolgt seine eigenen wirtschaftlichen Ziele. Trotzdem schafft er oder sie es damit, im Rahmen einer Struktur, die diese individuellen Bestrebungen kanalisiert und verstärkt, sich selbst wie auch die gesamte Gemeinschaft zu stärken. Die große Kunst ist es, den Egoismus auf langfristige Ziele auszurichten und nicht darauf, kurzfristig noch den letzten Euro aus Kunden, Belegschaft und Lieferanten herauszupressen. Der Einzelne muss als Homo oeconomicus agieren, also rational schauen, was ihm langfristig den maximalen Nutzen bringt. Nehmen wir den Sportartikelhändler in einer mittelgroßen Stadt: Er schließt sich einer Kooperation an, weil er dadurch bessere Einkaufskonditionen erhält, professionelle Marketingunterstützung bekommt und von bewährten Geschäftskonzepte profitiert. Sein primäres Motiv ist die Steigerung seines eigenen Erfolgs. Doch die Auswirkungen reichen weit darüber hinaus: Seine Kunden profitieren von einem besseren Sortiment zu fairen Preisen, seine Mitarbeiter von sicheren Arbeitsplätzen und die lokale Gemeinde freut sich über ein attraktives Einzelhandelsangebot.
Motiv: Egoismus. Ergebnis: Gemeinschaft.
Denkt man das Konzept des positiven Egoismus zu Ende, ist es für die allermeisten Händler nur logisch, sich einer Kooperation anzuschließen. Denn ein Händler, der Mitglied einer Kooperation wird, erhält Zugang zu besseren Konditionen, professionellem Know-how und einem Netzwerk Gleichgesinnter. Sein „egoistisches“ Motiv – die Verbesserung seiner Geschäftssituation – zahlt automatisch auf das Gemeinschaftskonto ein: Je mehr Mitglieder die Genossenschaft hat, desto stärker wird ihre Verhandlungsposition, desto besser werden die Konditionen für alle. Dieses System kann also allen nützen, wenn jeder versteht, dass es in seinem und ihrem höchsteigenen Interesse ist, die Gemeinschaft so stark wie nur eben möglich zu machen.
In der ANWR Gemeinschaft zeigt sich dieser Mechanismus ganz selbstverständlich: Händler teilen bewährte Praktiken, Markterkenntnisse und Innovationen miteinander. Nicht aus purer Nächstenliebe, sondern weil sie verstehen, dass eine starke Gemeinschaft jedem Einzelnen nutzt. Es ist ein aufgeklärter Egoismus, der alle voranbringt. Oder um noch einmal beim Handball zu bleiben: Nur wer vermeintlich selbstlos abspielt, kann sich freilaufen, den Ball zurückbekommen und dann selbst ein Tor werfen. Fürs Team.
Über Trittbrettfahrer und Alleingänger
Aber führen nicht rücksichtsloses Vorgehen und kurzfristige Tricks manchmal sogar schneller zum eigenen Vorteil? Genau hier liegt der wesentliche Punkt. Positiver Egoismus bedeutet nicht, andere zu schädigen, und schon gar nicht, auf Kosten anderer zu wachsen. Das wäre am Ende nicht nur unethisch, sondern sogar ungewollter Selbstboykott. Kurzfristig können solche Taktiken zwar womöglich einen Nutzen bringen. Langfristig jedoch fahren Unternehmer viel besser damit, Partnerschaften zu pflegen, nachhaltig zu wirtschaften und sich Schritt für Schritt eine loyale Kundschaft aufzubauen.
Ein Händler, der seinen Betrieb profitabel führt, in seine Mitarbeiter investiert und fair mit Partnern umgeht, schafft ein nachhaltiges Geschäftsmodell, das allen Beteiligten nutzt. Das Gleiche gilt für eine lebendige Innenstadt. Es lohnt sich schon aus Eigeninteresse nicht, die Ellenbogen auszufahren, wenn man so am Ende alleine zurückbleibt. Auch hier lässt sich sagen: Denkt an euch selbst. Und fördert genau deshalb auch die Gemeinschaft um euch herum. Ihr seid Teil einer Lage.
Führt man diesen Gedanken fort, lässt sich über Egoismus auch ein großes Problem von kooperativen Gemeinschaften lösen: das Trittbrettfahren. Jeder kennt es, jeder hasst es. Beispiel: Daten teilen. Eigentlich wäre es für viele Unternehmen und auch Händler sinnvoll, ihre Daten mit Menschen in der Kooperation zu teilen. Doch das ist zunächst einmal sehr aufwändig, zudem neu – und das Schlimmste: Es bringt einem selbst überhaupt nichts, sich als Allererster damit auseinanderzusetzen. Der Nutzen ist theoretisch viel größer, wenn andere erst einmal viele ihrer Daten teilen und man sich später anschließt. Das Problem: So macht niemand den Anfang, alle lauern darauf, eines Tages Trittbrettfahrer zu sein. Würden nun alle Beteiligten egoistisch denken, würde ihnen auffallen: Das Teilen von Daten bringt mir einen langfristig großen Vorteil. Also mache ich mit. Und weil alle so denken, ergibt sich in kürzester Zeit ein großer Nutzen für jeden Einzelnen, gleichzeitig für viele und natürlich auch die Gemeinschaft. Auch da wäre es also angebracht zu sagen: Sei Egoist. Spiel den Ball ab, oder eher: Teil die Daten.
Der Kunde als Gewinner
Was untereinander gilt, gilt auch für die Kunden. Diese profitieren genau dann, wenn Händler konsequent ihre eigenen Interessen verfolgen. Ein Schuhgeschäft, das langfristig erfolgreich sein möchte, muss exzellenten Service bieten, hochwertige Produkte führen und faire Preise kalkulieren. Der Händler tut das nicht aus Selbstlosigkeit, sondern weil sein Geschäftserfolg davon abhängt. Dieser marktwirtschaftlich angetriebene Egoismus führt zu einem Wettbewerb um die beste Kundenbetreuung. Händler, die nur kurzfristig denken und ihre Stakeholder übervorteilen, verschwinden vom Markt. Übrig bleiben die, die verstanden haben, dass der eigene langfristige Erfolg untrennbar mit guter Zusammenarbeit verbunden ist.
Auch in Sachen Nachhaltigkeit zeigt sich der produktive Egoismus von seiner besten Seite. Ein Lederwarenhändler setzt heute nicht mehr nur aus ökologischer Überzeugung auf nachhaltige Produktion, sondern weil er erkannt hat, dass umweltbewusste Kunden bereit sind, für nachhaltige Produkte mehr zu bezahlen. Seine Motive, höhere Margen und eine größere Kundenzufriedenheit, führen zu einem gesellschaftlich wünschenswerten Ergebnis: weniger Umweltbelastung. Die Zukunft des Handels gehört denen, die positiven Egoismus verstehen und leben. In einer zunehmend vernetzten Welt wird deutlich: Nachhaltige Erfolge entstehen nicht durch rücksichtsloses Durchsetzen von Eigeninteressen, aber eben auch nicht dadurch, sich vollständig für andere aufzuopfern. Es geht darum, die Eigeninteressen zu verfolgen, um so indirekt die Gemeinschaft und damit wieder sich selbst zu stärken. In einer Zeit, in der Individualismus oft verteufelt wird, sollten wir uns daran erinnern: Eine starke Gemeinschaft braucht starke Individuen. Und starke Individuen entstehen nicht durch Selbstverleugnung, sondern durch das kluge und verantwortungsvolle Verfolgen der eigenen Interessen.
Der produktive Egoismus ist also keine Bedrohung für die Gesellschaft, er ist ihr Lebenselixier. Die Kunst liegt darin, ihn richtig zu dosieren und zu kanalisieren. Genau das gelingt in erfolgreichen Kooperationen und Genossenschaften besonders gut. Denn hier treffen sich Eigennutz und Gemeinwohl zu einem kraftvollen Ganzen. Ach, und bevor ich’s vergesse: Unser Handballteam hat sich nach der Ansage des Trainers aufgerafft, angefangen abzuspielen und gewonnen. Wie egoistisch von uns.