Mut lässt sich lernen

Courage ist wichtiger denn je, fällt vielen Menschen aber schwer.

Der Mut-Muskel

Couragiert zu handeln ist wichtiger denn je, fällt vielen Menschen im Alltag aber schwer – mal aus Angst, mal aus Bequemlichkeit. Doch die gute Nachricht ist: Mut lässt sich lernen.

Vor einigen Monaten erhielt Manfred Kets de Vries eine E-Mail. Der Niederländer ist einer der renommiertesten Managementforscher der Welt, er lehrt seit fast 20 Jahren an der Business School Insead bei Paris. Nun schrieb ihm einer seiner ehemaligen Studenten, der inzwischen einen großen Industriekonzern leitet. In der Coronapandemie begann die E-Mail, könne die Führungsetage beweisen, dass sie sich wirklich für die Belegschaft interessiert. Deshalb habe er – gegen den Rat einiger Anteilseigner – auf Entlassungen verzichtet; seine leitenden Angestellten zu einem Gehaltsverzicht überredet; einigen Lieferanten Sonderkredite angeboten; und für die Krankenhäuser in der Nähe des Firmensitzes Schutzausrüstung besorgt. Zu Beginn der Coronakrise habe er noch anders gedacht und gehandelt. Aber nun habe er „den Mut gefunden, das Richtige zu tun“.

Die E-Mail löste bei Kets de Vries zwei verschiedene Reaktionen aus. Zum einen war er stolz auf seinen ehemaligen Studenten, den er als schüchtern und zögerlich in Erinnerung hatte. Immerhin hatte der Manager den Mut aufgebracht, trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten entsprechend seiner Überzeugungen zu handeln. Zum anderen stellte sich der Führungsexperte eine Reihe von Fragen. Was genau führte bei seinem ehemaligen Studenten zu diesem Mutausbruch? War er in Wahrheit schon immer so? Oder hatte er sich diese Eigenschaft erst kürzlich antrainiert – und wenn ja, wie?

Mit den Antworten auf diese Fragen beschäftigen sich Menschen bereits seit mehr als 2500 Jahren. Als erster prominenter Fürsprecher der Tapferkeit gilt heute der griechische Philosoph Platon, der sie neben Gerechtigkeit, Besonnenheit und Klugheit zu den vier Kardinaltugenden zählte – also gewissermaßen so etwas wie die charakterliche Grundausstattung. Sein Schüler Aristoteles wiederum zählte Mut zu der Art von Tugenden, die sich Menschen durch entsprechendes Verhalten antrainieren und angewöhnen können. Und genau dieser Gedanke, obwohl bereits Tausende von Jahren alt, ist weiterhin gültig. Heute mehr als je zuvor.

Ohne Mut gibt es keinen Fortschritt,
egal ob ökonomisch
oder gesellschaftlich.

Egal ob Menschen ein ganzes Land anführen oder nur einen kleinen Laden leiten, egal ob sie Veränderungen anstoßen, Ungerechtigkeiten beseitigen, alte Arbeitsweisen ersetzen oder neue Ideen durchsetzen wollen: Ohne Mut gibt es keinen Fortschritt, egal ob ökonomisch oder gesellschaftlich, egal ob im Berufs- oder Privatleben. Das Problem ist bloß: Der Mensch ist nicht unbedingt auf Courage programmiert. Da wäre vor allem der Faktor Angst – davor, sich lächerlich, unbeliebt oder verwundbar zu machen, Feinde zu schaffen und nicht mehr dazu zu gehören; für den Mut zum Risiko nicht belohnt, sondern bestraft zu werden, durch soziale Ächtung, finanzielle Einbußen oder berufliche Nachteile. Wie sinnlos die alten Methoden auch sein mögen: Irgendjemand hielt sie irgendwann mal für eine gute Idee und fand dafür sogar noch Anhänger. Und diese Gruppe macht man sich durch mutiges Einschreiten zum Feind.

In gewisser Weise schleppen wir immer noch unser evolutionäres Erbe mit uns herum. Für unsere Vorfahren in der Steppe war es nicht nur unangenehm, durch allzu mutige Aktionen von den anderen ausgegrenzt zu werden. Es war lebensgefährlich. Wer allein gelassen wurde, musste mit den Raubtieren und Umweltbedingungen allein klar kommen.

Langfristig sinnvoller

Dieser Hang zur Zaghaftigkeit findet sich noch heute in sprachlichen Klischees. In Stellenanzeigen pochen Unternehmen auf Teamfähigkeit und Loyalität, in Konferenzen erinnern erfahrene Kollegen daran, was man alles „immer schon so gemacht“ habe. Kein Wunder, dass viele Menschen lieber mit dem sprichwörtlichen Strom schwimmen. Ist ja auch bequemer. Zumindest kurzfristig.

Langfristig hingegen kann kein Unternehmen, keine Organisation und keine Einzelperson ohne Mut erfolgreich sein. Und dafür muss man noch lange kein Whistleblower sein, der Skandale bei Autokonzernen, Finanzinstituten oder Behörden aufdeckt.

Vielleicht liegt genau hier der entscheidende Fehler. Wir denken beim Wort Mut viel zu oft an heroische Akte der Selbstaufgabe. An Menschen, die bereit waren, im wahrsten Sinne des Wortes alles aufs Spiel zu setzen. Ihren Ruf, ihre Freiheit, mitunter sogar ihr Leben. Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, sich von diesen Personen inspirieren zu lassen. Aber es besteht gleichzeitig die Gefahr, dass wir die moralische Latte zu hoch ansetzen und dadurch unsere eigene Untätigkeit rechtfertigen.

Es erfordert Mut,
ein wichtiges Problem
im Job zu lösen.

Dabei ist Mut kein Synonym für Märtyrertum. Es geht längst nicht nur um die spektakulären, seltenen Taten, die weltweit Schlagzeilen machen und in die Geschichte eingingen. Es erfordert schon Mut, irgendein wichtiges Problem im Job zu lösen. Hier verschwenden ineffiziente Prozesse Zeit und Geld, da senken interne Vorgänge die Arbeitsmoral, dort vergraulen strategische Entscheidungen die Kunden. Vor demselben Problem stehen all die Innovatoren und Disruptoren, die kleine Experimente wagen oder neue Produkte erfinden möchten.

Und die gute Nachricht ist: Diese Art der Courage lässt sich lernen. „Am besten kann man sich Mut wie einen Muskel vorstellen“, sagt Manfred Kets de Vries. Manche werden mit stärkeren Muskeln geboren als andere, so ist das nun mal: „Aber jeder kann seine Muskeln durch Training und Übung verbessern“, sagt Kets de Vries, „und das gilt auch für Mut.“

Logisch denken

Davon ist auch Ryan Holiday überzeugt. Der amerikanische Autor veröffentlichte im vergangenen September sein Buch „Courage Is Calling“, was frei übersetzt so viel heißt wie „Mutig sein ist angesagt“. Für ihn geht es im ersten Schritt vor allem darum, die Angst vor mutigen Entscheidungen und Handlungen zu besiegen. Wie das gehen soll? Vor allem auf zwei Arten.

Erstens helfe rationales Denken. Zur Verdeutlichung zitiert Holiday das Beispiel des griechischen Staatsmannes Perikles. Dessen Truppen waren eines Tages wie gelähmt, weil sich am Himmel ein Gewitter auftürmte. Damals wussten viele Menschen noch nicht, wie Blitz und Donner in Wahrheit entstehen und dass es sich dabei mitnichten um ein göttliches Zeichen, sondern um ein physikalisches Phänomen handelt. Flapsig formuliert: Die Soldaten zitterten vor Angst.

Um ihren Mut wiederzubeleben, schnappte sich Perikles zwei große Steine, stellte sich vor seine Truppe und begann, sie gegeneinander zu schlagen. Bumm … bumm … bumm … „Was glaubt Ihr, was Donner ist“, fragte Perikles seine Soldaten, „außer, dass die Wolken das Gleiche tun?“

Mut zur Analyse

Diese Herangehensweise empfiehlt Holiday allen, die sich vor irgendetwas fürchten: „Wir besiegen die Angst mit Logik.“ Dazu gehöre es auch, die genaue Ursache zu benennen. Wovor fürchten wir uns? Und was kann schlimmstenfalls passieren? Wir müssen also erstmal den Mut aufbringen, unsere Ängste zu analysieren. Häufig speisen sie sich aus Unsicherheit und Unwissen. Wer jedoch weiß, wovor genau er sich fürchtet, verschafft sich Erleichterung. Dadurch sinkt die Angst und das verhilft wiederum zu neuem Mut.

So ziemlich jede neue Idee
erntete zunächst Widerstand,
jede Veränderung stößt auf Zweifel

Im zweiten Schritt sollte man sich vor allem eines bewusst machen: So ziemlich jede neue Idee erntete zunächst Widerstand, jede Veränderung stößt auf Zweifel, jeder neuen Geschäftsidee wird von irgendwem das Scheitern vorhergesagt. Als Jeff Bezos seinem damaligen Chef bei einer Investmentbank die Idee von Amazon vorstellte, erwiderte der: „Klingt nach einem netten Einfall – jedoch eher für jemanden, der noch keinen festen Job hat.“

Aber vielleicht schweifen wir schon wieder zu sehr ab zu den Ausnahmefällen. Machen wir uns nichts vor: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Leser dieser Zeilen ein Milliarden-Unternehmen gründen wird, ist eher gering. Das heißt aber noch lange nicht, dass er (oder sie) im beruflichen Alltag keinen Mut braucht. Aber wie schaffe ich es konkret, couragiert zu handeln, ganz gleich ob im Büro, im Geschäft, im Lager, im Verkaufsraum oder am Fließband?

Die drei Perspektiven

Diesen Fragen hat James Detert seine wissenschaftliche Laufbahn gewidmet. Der Amerikaner ist BWL-Professor an der Darden School of Business. Und im vergangenen Mai veröffentlichte er die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Organisationsforschung: Sein Buch „Choosing Courage“ versteht er als eine Art alltäglichen Leitfaden für mehr Mut bei der Arbeit. Denn er ist überzeugt: Mutiges Verhalten lohnt sich umso eher, wenn man drei Perspektiven berücksichtigt – vor, während und nach einer tapferen Tat.

Zunächst gehe es darum, erstmal die richtigen Bedingungen zu schaffen, überhaupt erfolgreich sein zu können. Dafür bräuchten Menschen allerdings einen so genannten Idiosynkrasiekredit. Klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz simpel.

Der Begriff geht zurück auf den US-Sozialpsychologen Edwin Hollander. Er beobachtete bereits in den Sechzigerjahren: Wer sich einer Gruppe gegenüber die meiste Zeit konform verhält, sich als besonders kompetent erwiesen hat oder über hohen Status verfügt, darf gelegentlich ohne schwere Folgen von dieser Gruppe abweichen – denn er hat einen „Idiosynkrasiekredit“ erworben. Flapsig formuliert: Man darf sich daneben benehmen, weil man sich in der Vergangenheit vorbildlich verhalten hat.

Wer sich einen Vertrauenspuffer aufgebaut
hat, kann durch mutiges Verhalten angreifen,
ohne ein allzu großes Risiko einzugehen.

Übertragen auf mutige Handlungen heißt das: Nur wer sich zuvor durch ebenso warmherziges und sympathisches wie kompetentes Verhalten eine Art Vertrauenspuffer aufgebaut hat, kann die entsprechenden Normen durch mutiges Verhalten angreifen, ohne allzu großes Risiko einzugehen und gleichzeitig glaubwürdig erscheinen. Wer diesen Idiosynkrasiekredit nicht hat, wird durch eine mutige Handlung von der Gruppe tendenziell als Störenfried empfunden. Und das senkt die Erfolgsaussichten.

Zweitens gilt laut James Detert: „Überlegen Sie gut, wann und wie genau Sie handeln.“ Wenn wir uns bei jedem beliebigen Thema engagieren und echauffieren, egal wie bedeutsam es sein mag, gelten wir irgendwann als Nervensäge – und darunter leidet die Glaubwürdigkeit. Wenn wir uns aber jedes Mal einreden, dass jetzt weder die richtige Zeit noch der richtige Ort ist, mündet das irgendwann in Apathie und Teilnahmslosigkeit. Was tun? Eine objektive Antwort gibt es darauf nicht. Aber es gibt ein paar subjektive Indizien.

Vermeiden Sie es zu handeln,
wenn Ihre Gefühle am stärksten sind.
Wut, Schmerz oder Abneigung
sind selten gute Ratgeber.

Detert rät dazu, sich eine Reihe von Fragen zu stellen. Etwa: Was sind meine wichtigsten Werte und Ziele – und würde ich die verraten und vernachlässigen, wenn ich jetzt nicht mutig bin? Was genau steht auf dem Spiel, und zwar ebenso kurz wie langfristig? Lasse ich mich von meinen Emotionen eher informieren oder kontrollieren? Detert:„Vermeiden Sie es zu handeln, wenn Ihre Gefühle am stärksten sind.“ Wut, Schmerz oder Abneigung seien selten ein guter Ratgeber.

Die richtige Ansprache

Wenn wir uns nach dieser Checkliste immer noch für eine mutige Handlung entscheiden, kommt es auf unsere Art der Kommunikation an. Im Kern geht es darum, die Zielgruppe richtig anzusprechen. Faustregel: Denken Sie weniger über das Thema nach und mehr über die Adressaten. Ist die Person oder Gruppe eher auf Besitzstandswahrung aus und darauf, Verluste zu vermeiden? Oder will sie sich und Ihr Unternehmen vor allem weiterentwickeln? Ist Sie neuen Ideen gegenüber generell offen oder Traditionalist? Reagiert Sie eher auf Chancen oder auf Gefahren? Doch auch nach einer mutigen Handlung geht die Arbeit weiter. Nicht nur, um konkrete, messbare Schritte zur Zielerreichung festzulegen und das Engagement der Beteiligten zu sichern. Sondern vor allem aus atmosphärischen Überlegungen.

Ganz gleich, wie geschickt wir vorgehen: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass danach irgendjemand verletzt, verärgert oder verwirrt ist. „Diese negativen Gefühle sollte man ernst nehmen und ansprechen“, sagt James Detert, „selbst wenn das erneut Mut erfordert.“ So bleiben die Mut-Muskeln wenigstens im Training.

Alles halb so wild

Falls all diese Botschaften nun doch zu überwältigend sind und Sie weiterhin dazu tendieren, auch beim nächsten Mal lieber nicht mutig zu sein, hier noch eine letzte Anekdote aus der Historie.

Bevor er im Jahr 1869 zum 18. US-Präsidenten gewählt wurde, kämpfte Ulysses S. Grant im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg. Eines Nachts ritt er mit einem Kameraden alleine durch feindliches Gebiet, als er plötzlich Wölfe heulen hörte. Das Präriegras war hoch, er konnte die Tiere nicht sehen, aber den Geräuschen nach konnten sie nicht weit weg sein. „In meinen Ohren schien es so, als ob es genug von ihnen gäbe, um uns und unsere Pferde auf einmal zu verschlingen“, schrieb Grant Jahrzehnte später in seinen Memoiren. In diesem Moment fragte ihn sein Begleiter, mit vielen Wölfen er rechne. Grant wollte ihn nicht verschrecken und setzte seine Schätzung bewusst niedrig an: „Vielleicht so um die 20.“ Plötzlich standen sie vor dem Rudel. Es bestand aus gerade mal zwei Tieren.

Die Hindernisse, die Gegner, die Kritiker –
sie sind letztlich nie so zahlreich,
wie man vorher denkt.

„Ich habe oft an diesen Vorfall gedacht“, schrieb Grant in seinen Memoiren. Und fügte dann hinzu, was er daraus für sein weiteres Leben gelernt hatte: „There are always more before they are counted.“ Die Hindernisse, die Gegner, die Kritiker – sie sind letztlich nie so zahlreich, wie man vorher denkt.

Text: Daniel Rettig
Bild: Adobe Stock