Die ganz, ganz große Chance

Immer häufiger wollen Kunden nachhaltige Produkte kaufen. Für Firmen ist dies eine große Chance, sich vom Markt entscheidend abzugrenzen.

Es ist schon Abend und inmitten eines französischen Spitzenrestaurants spielen sich plötzlich spannende Szenen ab. Nach guten Monaten steht der Chef ein wenig unter Druck. Die Gäste sitzen an den Tischen, wollen bedient werden, während sie in der Küche improvisieren müssen, weil ein Großteil des regulären Personals fehlt. Jetzt heißt es, gedankenschnell zu handeln, kreativ zu sein und zusammenzuhalten.Denn dieser Abend ist nicht nur herausfordernd. Nein, er ist auch die größte Chance für den bisher unerfahrenen Koch, sich von allen anderen Restaurants dieser Stadt positiv abzugrenzen. Immerhin sitzt der berühmteste Restaurantkritiker Paris’ an einem einzelnen Tisch und verlangt etwas Neues, etwas, das er nicht erwartet und doch will.Er verlangt: überrascht zu werden.

Es gilt, die Menschen mit etwas zu überzeugen,
was tief in ihrer DNA verankert und von der Idee her simpel ist.

Nun mag sich diese Szene nur auf den Kinobildschirmen der Welt abgespielt haben, ist sie doch aus dem Animationsfilm Ratatouille, in dem eine kleine Ratte ein großer Koch wird und die Menschen verzaubert. Doch die Situation passt zu der, in der viele Händler stehen. Denn auch sie müssen den harten Kritiker, in ihrem Fall den Kunden, mit immer neuen kreativen und bahnbrechenden Ideen von sich und dem eigenen Angebot begeistern. Nur, wie soll das gehen? Im Animationsfilm setzen sie dem Restaurantkritiker kein Schickimicki vor, sondern das namensgebende Gericht Ratatouille. Das ist von der Idee her einfach, wird in Frankreich schon seit vielen Jahren serviert und geliebt. Denn es ist simpel, in vielen Familien verbreitet und berührt ihre Gefühle. Das Gericht begeistert den Kritiker so sehr, dass er nicht nur eine gute Kritik schreibt, sondern gleich zum Stammgast avanciert, ja: zum Fan. In der Folge kommt er immer wieder, lässt sich beraten, überraschen und auch von neuen Ideen begeistern.

Für den Handel gilt das analog in Bezug auf den Wandel hin zu mehr sozialer wie auch ökologischer Nachhaltigkeit. Es gilt, die Menschen mit etwas zu überzeugen, was tief in ihrer DNA verankert und von der Idee her simpel ist. Schließlich gab es im Einzelhandel Angebote wie Reparaturservices schon vor hunderten Jahren, ebenso eine Mentalität der Wiederverwendung oder auch ein menschlicher Umgang mit den Mitarbeitenden. All das muss der Handel nun wieder nach außen kehren, um sich von den großen Handelskonzernen abzuheben, einzigartig zu sein – und so die Kunden zu begeistern.

Schon heute sehen mehr als 70 Prozent der Deutschen
Nachhaltigkeit als ein wichtiges Thema beim Konsum an.

Eine schlechte Nachricht gibt es dabei vorweg: Das wird nicht einfach. Die gute Nachricht folgt aber gleich danach: Anders als viele große Konzerne und Konkurrenten sind gerade kleine Einzelhändler prädestiniert für diesen Wandel. Das liegt zum einen daran, dass sie Veränderungen in ihren kleinen, agilen und nicht zuletzt familiären Teams schon immer gut umsetzen konnten. Zum anderen aber auch daran, dass die Werte, die Konsumenten unter Nachhaltigkeit verstehen, seit Jahrzehnten extrem eng mit dem Einzelhandel verknüpft sind und in vielen Ansatzpunkten heute schon zu finden sind.

Um zu verstehen, welche Schritte nun notwendig sind, ist es wichtig, das große Ganze zu sehen. Dazu zählt zunächst, dass Nachhaltigkeit keine Modeerscheinung ist, die verschwinden, sondern sich sicherlich noch verstärken wird. Schon heute sehen mehr als 70 Prozent der Deutschen Nachhaltigkeit als ein wichtiges Thema beim Konsum an, hat das Handelsblatt Research Institute herausgefunden. Eine Studie der Unternehmensberatung Simon & Kucher, für die mehr als 10.000 Konsumenten befragt wurden, hat gezeigt: Nachhaltigkeit gehört schon heute zu einem der fünf wichtigsten Kaufkriterien für viele Menschen. Waren es 2021 nur knapp 50 Prozent, die das so sahen, waren es 2022 schon mehr als 60 Prozent, Tendenz steigend.

Konsumenten wollen weiter einkaufen – nur eben anders

Diese Zahlen sind Ausdruck der langsamen Entwicklung hin zu einer Post-Konsumgesellschaft, in der Fast-Fashion auf dem Rückzug ist und tradierte Werte wieder Auftrieb erhalten. Denn, das ist ganz wichtig: Nachhaltiger Konsum bedeutet für die Menschen nicht unbedingt, dass sie viel weniger oder gar nicht mehr konsumieren wollen. Nein, sie wollen nur anders konsumieren, als sie es bisher taten. Auf die Frage nämlich, auf welche Aspekte Verbraucher achten sollten, wenn sie möglichst ökologisch einkaufen, gaben 79 Prozent an, meistens oder immer auf „Langlebigkeit” zu achten. 69 Prozent versuchten, Retouren zu vermeiden und 67 Prozent achteten meist oder immer auf Regionalität. Noch dazu kommt, dass 82,5 Prozent zwar die Hersteller in der Pflicht sehen, sich hier zu bemühen, aber eben auch 80,7 Prozent den Handel als wichtigen Treiber identifizieren. Das zeigt: Industrie und Handel müssen hier zusammenarbeiten, um den Kunden das bestmögliche Erlebnis zu bieten.

Aus den Zahlen lässt sich ebenfalls schließen, dass es ein großes Potenzial für ebenjene Händler gibt, die sich hier positionieren und entsprechende Konzepte präsentieren. Dazu gehören sinnstiftende Angebote wie nachhaltige Reparaturen. Dazu gehört aber auch eine möglichst vertrauensvolle Beratung, die Menschen deutlich und ehrlich zeigt, wo bestimmte Teile der Produkte tatsächlich ökologisch nachhaltig sind – und wo nicht.Hier geht es also um ehrliche und transparente Kommunikation.

Zu einem ehrlichen Wandel gehört in den darauf folgenden Schritten, offen für neue Formen der Wirtschaft zu sein. Das bedeutet eine konsequente Transformation zu einer Kreislaufwirtschaft, in der Produkte beziehungsweise deren Bestandteile von vornherein für die Wiederverwendung konzipiert werden. Dafür wiederum braucht es neue Geschäftsmodelle. Denn wenn Schuhe deutlich länger halten, braucht es Erlösmodelle, die das abfedern. Im Einzelhandel können das beispielsweise Zusatzleistungen wie Ganganalysen, Reparaturservices oder Abo-Modelle für Schuhe und Kleidung sein. Der Kreativität sind ebenso wie dem Design keine Grenze gesetzt. Hauptsache, der Kunde ist überzeugt. Hauptsache, Handel und Hersteller gehen hier Hand in Hand. An Inspirationsquellen mangelt es nicht. Da gibt es beispielsweise das Bürogebäude „The Cradle“, das gerade in Düsseldorf errichtet wird und gänzlich aus Holz besteht. Alle Materialien sind markiert, so dass Bauherren und Architekten auch in vielen Jahren und Jahrzehnten noch wissen, welcher Stoff dort an welcher Stelle verbaut wurde. Auf Kleber, die nie wieder zu lösen sind, wurde vollständig verzichtet. Und Rohstoffe aus dem Gebäude werden alle paar Jahre erneuert, ausgetauscht und an anderer Stelle wiederverwendet, so dass es ein lebendiges Haus wird. Oder wie der Architekt sagt: ein Rohstofflager.

Nachhaltigkeit und inhabergeführter Einzelhandel: Das passt gut zusammen

Patagonia, der Ausstatter für Outdoor-Bekleidung, lässt viele Produkte schon heute reparieren statt wegwerfen, Outdoor-Schuh-Hersteller wie Meindl und Lowa erneuern auf Wunsch die Sohlen gebrauchter Schuhe. Der Online-Händler Bergfreunde hat sich mit anderen Outdoor-Händlern zusammengetan und eine Selbstverpflichtung zum Klimaschutz unterschrieben, Outdoor Odenwald nimmt heute schon Schuhe zurück, trennt die Gummisohlen ab und liefert diese an einen Elastomerproduzenten, der diese wiederverwertet.

Und mit dem RUEI-01 gibt es einen Prototyp für einen Schuh, den Roboter zusammenbauen – und anschließend zu großen Teilen und ohne viel Mühe wieder auseinandernehmen können. Puma experimentiert bereits mit einem komplett kompostierbaren Sneaker und die Firma Got Bag hat gerade einen neuen Rucksack auf den Markt gebracht, der zu großen Teilen aus Plastik besteht, das vorher aus den Weltmeeren gefischt wurde. Für den Einzelhandel sprechen zusätzlich auch die Ängste der Menschen. Diese haben gerade durch den Hype um das Thema Nachhaltigkeit oft das Problem, dass sie kaum unterscheiden können, was nun wirklich nachhaltig ist und was nicht. Das liegt natürlich daran, dass es mittlerweile eine unübersichtliche Menge an Zertifikaten und Siegeln gibt, die mehr verwirren als Orientierung geben. Hier sind die Gesetzgeber gefragt, und zwar global.

Doch auch der Einzelhandel kann dazu beitragen, hier Orientierung zu schaffen. Durch seine enge Verankerung in den Städten hat er eine besondere Nähe zu den Menschen und spielt seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Versorgung. Diese Rolle können Händlerinnen und Händler nutzen, um den Menschen Leitplanken bei ihrem nachhaltigen Einkauf zu geben. Die Ansätze konsequent umsetzen, am besten im Verbund mit anderen: Das ist das Ziel

Schafft es der Handel, auf nachhaltigen Ansätzen aufzubauen und diese noch konsequenter zu leben, kann er sich so zukunftsorientiert positionieren. Zudem ist es langfristig moralisch wie auch ökonomisch sinnvoll und logisch. Eine konsequent nachhaltige Ausrichtung ist nicht nur Selbstzweck, sondern hilft bei der Bewältigung des Fachkräfte mangels. Da für die nun auf den Arbeitsmarkt strömende Generation Nachhaltigkeit eine große Bedeutung hat, lassen sich mit nachhaltigen Konzepten einfacher motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen. Das Beste aber ist natürlich: Der Handel leistet durch seine schrittweise Transformation einen wirklich großen Beitrag mit Blick auf die ökologische Nachhaltigkeit. Denn der Kauf von Bekleidung gehört zu den Konsumaktivitäten mit besonders hoher Emissionsbelastung. Noch vor Freizeit, Kultur, Gesundheit oder Gastronomie, jedoch mit deutlichem Abstand hinter der Ernährung.

Deswegen bedeutet jede Veränderung einen großen Unterschied. Das beginnt beim Einzelhandel im Kleinen und wirkt natürlich umso stärker, je organisierter der Handel ist. Der Vorteil dieser Zusammenschlüsse: Man muss die Aufgaben auch nicht alleine bewältigen. Ganz so wie der Chefkoch in Ratatouille: Dort half zum Schluss eine ganze Mannschaft kuscheliger Nagetiere, neue Wege zu gehen und Kritiker zu überzeugen. Mit Erfolg.

Text: Nils Wischmeyer
Illustration: Chrissie Salz